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Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug

~ Informationen zum österreichischen Maßnahmenvollzug für Betroffene, Angehörige und Interessierte

Kategorien-Archiv: Resozialisierung

Helmreich´s Novemberbrief

15 Mittwoch Nov 2017

Posted by markusdrechsler74 in §21/2, Gutachten, Gutachter, Maßnahmenvollzug, Reform Maßnahmenvollzug, Resozialisierung, Selbst- und Interessensvertretung Maßnahmenvollzug

≈ 3 Kommentare

Schlagwörter

Gutachten, Haftbedingungen, Karl Helmreich, Maßnahmenvollzug, Rechtsanwälte, Therapie

Prison cell

Diesmal bleibe ich beim Schwerpunkt “Gefangene – vornehmlich im Maßnahmenvollzug“: Ich habe einen jungen Menschen neu kennengelernt, der mit 20 Jahren Haft und der Maßnahme bestraft wurde. Bei Tieren sind wir gegen die Käfighaltung – ein junger Mensch wird zwanzig Jahre weggesperrt.

Verweigern wir die Hoffnung, dass Heilendes an diesem Menschen möglich ist? Ich erlebe das Menschenzerstörende langer Haft! Einmal möchte ich erleben, dass ein/e Richter/in, ein/e Staatsanwalt/in so einen jungen Menschen besucht und ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet. Nein, ich bin nicht naiv, es gibt Menschen, in denen das Menschliche von frühester Kindheit nahezu zerstört wurde, aber was an Zurufen nach noch härterer Bestrafung an Unmenschlichkeit hinzugefügt wird, ist schlimm!

Wie können wir dem Mitmenschen in seiner Bedürftigkeit, in seiner innersten Sehnsucht nach Selbstverwirklichung gerecht werden? (nach weitest gehender Selbstverwirklichung, ohne andere zu schädigen). Diese Frage trieb und treibt mich um besonders hinsichtlich der „Sexualtäter“, die mir von Anbeginn ein besonderes Anliegen waren und nach wie vor sind. Aber sie gilt natürlich für alle Menschen, und ich besuche ja auch andere. Das verlangt ein wahres Interesse am jeweiligen Menschen, an seiner Kindheitsgeschichte, an vielleicht frühen psychischen Verletzungen, am Nichtwahrnehmen seiner Bedürftigkeit, ja an der Zurückweisung, am Abblocken derselben durch sein Umfeld, oft noch ehe diese ihm wirklich bewusst waren. Das heißt, der Delinquent muss viel mehr als der Hilfe bedürftig, als ein zu Bestrafender, gesehen werden.

Naturgemäß hatte ich als homosexueller Mann ein sensibleres Sensorium für solche Menschen in Haft. Im Gefängnis hatte und habe ich ausschließlich mit Männern zu tun. Selbst als ein Minderheitenangehöriger, habe ich ein besonders ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das freilich in der Gefängniswelt auf eine harte Probe gestellt wird. Dazu kommen eingeschränkte Möglichkeiten der Begegnung. In einer Anstalt konnte ich nicht weiter besuchen, nur aus Rücksicht auf die Insassen habe ich das nicht wirksam bekämpft. Gute Möglichkeiten haben SeelsorgerInnen, soweit sie unmittelbaren Zugang zu den Personen in Haft haben, und sofern sie gereifte Persönlichkeiten sind. Vereinzelt haben Gefangene hilfreiche Beziehungen zu TherapeutInnen, die in Einzeltherapie begleiten können, zu PsychologInnen, besonders in der Zeit der Untersuchungshaft. Es gibt Wachebeamte, die sich als sehr menschlich erweisen, sie haben ja die meiste Zeit mit den Gefangenen zu tun. Es gibt also Spielräume der Menschlichkeit.

Aber insgesamt ist der Maßnahmenvollzug nicht hilfreich für eine gute Entwicklung derer, über die die Maßnahme verhängt wurde. Ein Übel ist häufig schon das Einweisungsgutachten. Sehr bestimmend ist da oft das erst kurz zurückliegende Tatverhalten. Viel zu wenig erkennbar ist das Nachspüren, was die dahinterliegenden, oft verborgenen Ursachen sind. Oft sind Grundbedürfnisse dieser Person von früher Kindheit an missachtet worden und werden im Gutachten neu missachtet! Ja, da ist ein Mensch mit Defiziten, aber wie kam es dazu und wie könnte wirksam geholfen werden, sie zu mindern. Es geht also darum, den Menschen mehr als jemanden zu sehen, der einer Hilfestellung bedarf, als ihn zu strafen.

Eine hohe Verantwortung ist die Zuordnung eines Krankheitsbegriffes nach ICD10, die penibel zu begründen ist. Mir scheint, dass es GutachterInnen gibt, die keine spezifische Ausbildung bezüglich der Entwicklung der menschlichen Sexualität haben, keine ausgebildeten SexualtherapeutInnen sind, und zu Urteilen kommen, die höchst fragwürdig sind, zum Beispiel Pädophilie diagnostizieren, die keine ist. Die daran anschließende Frage ist, welche Auswirkungen das auf die „Behandlung“ in der Zeit der Anhaltung hat. Besonderer Beachtung bedürfen auch junge Menschen, die aus völlig anderen Kulturen kommen, es verlangt ein sehr genaues Hinsehen – unter Hilfestellung von Personen, die hier vermitteln können – um genauer zu beurteilen, wie es zu solchen Irritationen kommen konnte. In der Haft scheint mir die Verhaltenstherapie vorzuherrschen, keine Tiefenpsychologie, die auf den Grund zu gehen versucht. Dazu kommt unbedingtes Fordern von Anpassung – „Compliance“ nennt sich das überstrapazierte Wunderwort, und es geht um absolute Kontrolle. Dazu kommt häufig ein hoher Medikamenteneinsatz von Psychopharmaka, die eine dämpfende Wirkung haben. PatientenanwältInnen sind deshalb eine unbedingte Forderung.

Am Schlimmsten ist: der Fokus liegt immer neu auf dem Fehlverhalten und es geht nicht darum, nach den vorhandenen Stärken zu suchen und sie zu fördern. Die überlangen Anhaltungen sind schwere Menschenrechtsvergehen, sie sind ein Verbrechen an der jeweiligen Person. Wenn für eine qualitätsvolle Therapie drei Jahre nicht ausreichen, welches Wunder soll dann im 7. oder im 12. Jahr passieren? Wie oft soll die Tat noch reflektiert werden? Es gibt ohnehin Folgeeinrichtungen, wo leider die Unselbstständigkeit weiter gepflegt wird. Nicht selten sind aber die Personen zu einem selbstbestimmten Leben gar nicht mehr fähig. Diese überlangen Anhaltungen sind zum Teil mitverschuldet von der jeweiligen Anstalt, aber auch durch den Sicherheitswahn der Gesellschaft, dem nicht gegengesteuert wird und der sich auf GutachterInnen und RichterInnen überträgt. Aber viele Gutachten lassen es an Sorgfalt fehlen, und das ist verantwortungslos und schuldhaft und schädigt die Berufsehre der PsychiaterInnen und PsychologInnen schwer (wie das ja auch in der jüngeren geschichtlichen Vergangenheit in großem Ausmaß der Fall war).

Eine Fehleinschätzung kann auch bei großer Sorgfalt passieren, kein Mensch liegt in letzter Offenheit vor sich und dem Urteilenden da und künftige, sehr unglückliche Konstellationen sind selbst von dem ehrlichsten und offensten Befragten und der urteilenden Person nicht voraussehbar – ein Restrisiko muss die Gesellschaft zu tragen bereit sein.

Unbedingt ist verpflichtend ein Rechtsbeistand bei den Anhörungen vorzusehen.

In manchen Einrichtungen konzentrieren sich Übel. Auch wenn sich über Jahre erwiesen hat, dass eine Leitung den Anforderungen nicht gerecht zu werden vermag – wie ist es möglich, dass sie nicht abgelöst wird? Wie ist es verantwortbar, dass diese zum Schaden redlicher MitarbeiterInnen und besonders der Gefangenen weiter verbleibt, obwohl dies den übergeordneten Verantwortlichen bekannt ist? Selbst Reformen werden so unwirksam bleiben.

Es muss eine kürzest mögliche Anhaltung erreicht werden und dadurch eingesparte Mittel sollen in eine gute, emanzipatorische Begleitung hernach investiert werden. Immer noch gibt es nicht überwindbare Hürden bei der Wiedereingliederung. Selbst die sonst sehr soziale Gemeinde Wien erlaubt keine Einstellung Vorbestrafter in den öffentlichen Dienst, der in einer so großen Kommune eine Vielfalt von Möglichkeiten bieten würde. Es ist völlig uneinsichtig, warum in Bereichen, die keinerlei Zusammenhang mit dem Delikt haben, eine Wiedereingliederung nicht möglich ist.
Die Arbeitsvermittlung wird immer schwieriger, aber gerade für Gestrauchelte ist es wichtig, erfahren zu können: ich kann mein Fortkommen selbst erarbeiten und einen redlichen Beitrag zu gemeinnützigen Tätigkeiten leisten.

Seit 2004 greife ich das Thema immer wieder auf, es hilft den Betroffenen nicht und ein Bündnis mit engagierten Fachleuten ist nicht wirklich gelungen. Es bräuchte RechtsanwältInnen an allen Standorten des Maßnahmenvollzug – derzeit Wien, Graz, Umfeld Garsten, Umfeld Krems, Korneuburg/Hollabrunn und Asten/Enns/Linz-, die jährlich einen mittellosen Gefangenen, einen Härtefall übernehmen, und PsychiaterInnen/PsychologInnen, die bereit sind, Gegengutachten zu erstellen und/oder erstellte Gutachten zu analysieren. Das ist wohl besonders schwer, weil es Widerspruch von Berufskollegen mit sich bringt. Der Verein „Selbst- und Interessensvertretung im Maßnahmenvollzug“ könnte Härtefälle vermitteln.

Ein Entlassener sucht mit immer mehr Verzweiflung einen Arbeitsplatz: kein Eigentumsdelikt, niemand bedroht, zu erwarten sind Verlässlichkeit und Einsatz – wer kann helfen? Er beschreibt sich so: Ich bin knapp 49 Jahre, gelernter Einzelhandelskaufmann, 17 Jahre berufstätig, Kundenbetreuung telefonisch und persönlich, Warenausfolgung, Stammdatenpflege, Kommissionierung, Umgang mit Computer. Wohnhaft in Wien 14.

Der Autor: Karl Helmreich, Dipl.Sozialarbeiter, Ordensmann, Zusatzausbildung als Lebensberater mit dem Schwerpunkt Sexualberatung.

Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss…

30 Dienstag Mai 2017

Posted by markusdrechsler74 in BLICKPUNKTE, JA Garsten, JA Stein, Resozialisierung

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Schlagwörter

Ausbildung während der Haft, Christine Hubka, JA Garsten, JA Josefstadt, JA Stein, Pflichtschulabschluss

Hubka 1Ein Erfahrungsbericht von Dr. Christine Hubka
1950 geboren in Wien, Dr. theol., evangelische Pfarrerin i. R.; derzeit Gefängnisseelsorgerin in der Justizanstalt Josefstadt in Wien. Gründerin des Evangelischen Flüchtlingsdienstes. Preisträgerin des Bruno Kreisky Menschenrechtspreises. Autorin zahlreicher Sendungen im ORF-Radio und mehrerer religionspädagogischer Fachbücher sowie Kinderbücher.

 

 

Schlecht gebildete Menschen kommen häufiger in Haft

5Was Wilhelm Busch so genial vor über hundert Jahren gedichtet hat, erweist seine tiefe Wahrheit vor allem auch im Strafvollzug. Fast genau zwei Drittel der österreichischen Insassen haben laut Bericht über den Strafvollzug (2011) nicht mehr als höchstens einen Pflichtschulabschluss. Nur neun Prozent haben Matura oder einen höheren Abschluss. In der Gesamtbevölkerung sind es 24 Prozent.

Zudem ist im Strafvollzug der Anteil jener Menschen, die   von „funktionalem Analphabetismus“ betroffen sind, deutlich höher als in der übrigen Gesellschaft.[1]

Wer wenig oder gar nicht gebildet ist, scheint also schneller im Gefängnis zu landen.[2]

Zukunftsweisender Ansatz im Strafvollzugsgesetz[3]

Das Strafvollzugsgesetz sieht daher auch vor, dass „Strafgefangene, die keinen Beruf erlernt haben oder im erlernten Beruf nicht beschäftigt werden können, in einem ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und womöglich auch ihren Neigungen entsprechenden Beruf auszubilden“ sind.

Bemerkenswert erscheint mir an dieser Formulierung, dass auch die „Neigung“ zu einem Beruf oder einer Tätigkeit berücksichtigt werden soll. Hier öffnet der Strafvollzug sinnvoller Weise den Inhaftierten Freiräume indem er berücksichtigt, dass neigungsgemäßes Lernen eher erfolgreich sein wird.

Eine weitere positive Bestimmung folgt: Die in einem Kurs oder einer anderen Form der Ausbildung verbrachte Zeit wird als Arbeitszeit angerechnet und entlohnt. Dies signalisiert den InsassInnen, dass die Justiz ihren Bildungswillen ernst nimmt.

Auch darauf, dass die im Gefängnis erworbenen Fähigkeiten  und Qualifikationen „draußen“ nicht zu einer Stigmatisierung führen, nimmt das Gesetz Bedacht: „Zeugnisse über eine Berufsausbildung sind so auszufertigen, dass nicht erkennbar ist, dass die Prüfung oder Ausbildung im Strafvollzug stattgefunden hat.“[4]

Der Bedarf an Basisbildung bzw. handwerklicher Berufsausbildung betrifft die größte Personengruppe der Inhaftierten. Die Angebote sind von Justizanstalt zu Justizanstalt verschieden ebenso wie die Umsetzung im Haftalltag.

Alphabetisierung

Nicht jeder Insasse, jede Insassin kann sinnerfassend lesen, wenn sie oder er in Haft kommt. Das erschwert das Leben im Gefängnis. Denn schon beim Zugang erhält der Gefangenen ein Blatt mit der detaillierten Hausordnung ausgehändigt. Wer diese nicht lesen kann, verstößt eher gegen die Regeln mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Zudem muss jede Kontaktnahme mit den Betreuungsdiensten schriftlich erfolgen.

Wer nicht selber sein Ansuchen zu Papier bringen kann, ist auf die Hilfe von MitinsassInnen angewiesen. Solche Freundlichkeiten erzeugen Abhängigkeiten.

Dieser Situation Rechnung tragend, bieten viele Haftanstalten Alphabetisierungskurse an.

Ich selber wurde im Rahmen meiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorgerin in der JA Wien Josefstadt gebeten, mit einer afrikanischen Frau an deren Alphabetisierung zu arbeiten. Sie war mit acht Jahren nach Österreich gekommen und hatte hier die Volksschule und die Hauptschule besucht. Sinnerfassend lesen konnte sie ebenso wenig wie sich schriftlich verständlich ausdrücken. Zweimal die Woche arbeiteten wir. Die Fortschritte waren gering. Eines Tages fragte ich sie nach ihrer Muttersprache. Fröhlich begann sie auf Französisch zu plaudern. Ich kramte in den Resten meiner Französischkenntnisse, fand dort die wichtigsten Alltagsvokabeln und arbeitete mit ihr hinfort zweisprachig. Der Erfolg stellte sich augenblicklich ein. Wenn sie auch nicht fließend und fehlerfrei lesen konnte, so war sie doch in den vier Monaten bis zu ihrer Entlassung ein großes Stück weiter gekommen.

Unser Glück waren meine rudimentären Französischkenntnisse. Was aber, wenn jemand eine nicht so gängige Erstsprache in das Alphabetisierungsprogramm mitbringt? Dazu sind die Lerngruppen im Gefängnis aus Menschen mit dem unterschiedlichsten Sprach- und Bildungshintergrund zusammengesetzt. Eine schier unerfüllbare Aufgabe für die Lehrenden.

Pflichtschulabschluss

Für jugendliche InsassInnen besteht die Möglichkeit, während der Haft den Pflichtschulabschluss nachzuholen. Auch Erwachsene erhalten in manchen Anstalten diese Chance.

Bis vor wenigen Jahren war die Art der Prüfung für Jugendliche und Erwachsene gleich. Seit 1. Jänner 2012 bietet das BM für Unterricht ein wegweisendes Curriculum, das auf die Bildungsbedürfnisse von Erwachsenen und das Erlernen von alltagstauglichem Wissen und Fertigkeiten ausgerichtet ist.[5]

Frau D. bat mich um Unterstützung, den Pflichtschulabschluss nachzuholen. Nach beinahe zwei Jahrzehnten begann sie wieder für eine Prüfung zu lernen. Zu Beginn ging ihr alles zu langsam. Manches erschien ihr zu mühsam. Mit der Zeit entwickelte sie nicht nur ihre Fähigkeiten sondern auch einen erstaunlichen Ehrgeiz. Zweimal zwei Stunden in der Woche ermöglichte uns die Justizanstalt als Lernzeit. Dazwischen gab ich Frau D. Arbeitsaufträge, die sie gewissenhaft ausführte. Vor ihrer Entlassung legte Frau D. die erste von insgesamt sechs Prüfungen mit Sehr gut ab. Das steigerte ihren Eifer und vor allem ihr Selbstbewusstsein. Sie erzählte, dass sie nicht nur mehr Selbstvertrauen habe, sondern sich auch körperlich wohler fühlte, wenn sie sich mit ihren Lernaufgaben befasste. Es ist zu hoffen, dass sie nach einer Zeit der Eingewöhnung in die Freiheit ihr Ziel weiter verfolgen wird.

Eine Schule, die bereit ist, ihr die Externisten Prüfungen abzunehmen gibt es ja jetzt. Es ist die vierte Schule, wo ich anfragte. Drei lehnten sofort ab, als sie hörten, dass die zukünftige Kandidatin in Haft sei. Dazu ist anzumerken, dass keine Schule verpflichtet ist, Externisten zu prüfen.

Facharbeiter Ausbildung [6]

In  einigen  Anstalten  besteht  die  Möglichkeit  zur  Absolvierung  einer Facharbeiterausbildung.  Die  praktische  Ausbildung  erfolgt  in Lehrbetrieben der  jeweiligen  Justizanstalten,  oder für Freigänger in Betrieben, die in Reichweite der Justizanstalt liegen und bereit sind, Insassen auszubilden. Der theoretische  Unterricht  wird  von  externen  und  internen Ausbildnern abgedeckt.

Die eine herausfordernde Ausbildung das Leben des Insassen verändert, hat Herr B. erlebt:

Er erlernte während seiner Haft den Beruf des Metallfacharbeiters. Jeden Morgen fuhr er mit dem Fahrrad zu seiner Lehrstelle. Der Kurs für die theoretische Ausbildung fand in der Justizanstalt statt. Abends, nach Einschluss, saß Herr B. nicht wie sonst vor dem Fernseher sondern beschäftigte sich mit Mathematik, Physik und Materialkunde. Wenn er bei einem Rechenbeispiel nicht weiter wusste, konnte es schon einmal passieren, dass er läutete und den Beamten im Nachtdienst um Hilfe bat. Herr B. erzählt, dass dieser Beamte und er sich manchmal bis Mitternacht mit einem Beispiel abgemühten, bis sie es „geknackt“ hatten.

Kurzkurse

Eine  reguläre  mehrjährige  Berufsausbildung  ist  naturgemäß  nur  bei  Strafgefangenen  mit  längeren  Freiheitsstrafen  möglich. Deshalb gibt es auch eine  kürzere  Ausbildungsschiene für Menschen mit kürzeren Haftstrafen oder solche, die eine volle Berufsausbildung nicht schaffen würden. Solche sogenannten  Fachkurse umfassen Servier- und Kochkurse, Englisch- und Deutschkurse, Staplerfahrerkurse, EDV-Kurse, Schweißkurse, Kurse zur Persönlichkeitsbildung usw.

Für den Staplerkurs müssen Bewerber einen kleinen Aufnahmetest absolvieren. Martin, ein jugendlicher Insasse der JA Wien-Josefstadt, scheiterte an den Mathematik Aufgaben. Die Formeln zur Berechnung eines Quaders hatte er von seiner Hauptschulzeit noch im Kopf. Die Technik des Multiplizierens hatte er jedoch vergessen und konnte daher die Beispiele nicht lösen. Traurig berichtete er mir, dass er in den Kurs nicht aufgenommen wurde. Bei meinen wöchentlichen Besuchen wiederholten wir ab nun die Grundrechnungsarten. Schnell kam die Fertigkeit zurück. Die von mir mitgebrachten Mathematikaufgaben löste er mit großem Ehrgeiz zwischen meinen Besuchen als Hausaufgaben und freute sich, wenn ich ihm ein Smiley zur Anerkennung auf den Zettel malte.

JA Stein mit eigener Bildungsbeauftragten

Vorbildlich ist in diesem Zusammenhang die JA Stein. Hier steht den Insassen eine eigene Bildungsbeauftragte zur Verfügung. Ein Insasse, den ich seit vielen Jahren begleite, wird von dieser seit Jahren in seinem  Bestreben, Bildung zu erwerben bestens unterstützt. Regelmäßig greift er auf die Möglichkeit zurück, sich mit der Bildungsbeauftragten zu beraten.

JA Garsten – Erster Insasse mit Studienabschluss[7]

Der ehemalige Journalist und wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte Helmut Frodl soll laut Wikipedia der erste Insasse mit Studienabschluss in Österreich gewesen sein. Im Sommersemester 1995 begann er ein Theologiestudium als außerordentlicher Studierender. Nach Absolvierung der Studienberechtigungsprüfung im Jahr 1998 an der Universität Salzburg wurde er in den Status eines ordentlichen Studierenden übernommen. Am 4. Juni 2007 absolvierte er, durch mehrere Freigänge ermöglicht, an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz ein Theologiestudium mit ausgezeichnetem Erfolg und wurde zum Magister der Theologie spondiert. Die Aussage, er sei bis heute der einzige Österreicher, der während der Haft ein Studium abschloss ist nicht korrekt. Ich selber kenne einen weiteren ehemaligen Insassen, der während der Haft ein Studium begonnen und mit dem Doktorat abgeschlossen hat. Ebenso einige, die die Möglichkeit von Fernstudien in Anspruch nehmen.[8]

Ist das Bildungsangebot für InsassInnen „Gnade“ oder im Interesse aller?

Das Strafvollzugsgesetz sieht in der im Gefängnis erworbenen Bildung ein Element der Rehabilitation.

Aber: Bildung von InsassInnen macht Arbeit. Bildung erfordert den Einsatz von MitarbeiterInnen.

Wenn wegen Krankenständen, Urlaub oder anderen unverzichtbaren Einsätzen Personalknappheit herrscht, bleiben die Lehrwerkstätten geschlossen.

Wenn am Stock nicht die vorgeschriebene Anzahl von BeamtInnen Dienst tun, entfallen die Lernstunden.

Die Information über die Bedingungen und das Curriculum des Pflichtschulabschlusses für Erwachsene ist noch nicht in allen Justizanstalten Österreichs angekommen.

Die Frage, ob disziplinäre Maßnahmen in das Recht auf Bildung eingreifen und dieses beschneiden dürfen, ist nicht geklärt.

Ebenso scheint die Frage in manchen Bereichen der Justiz nicht ausdiskutiert zu sein, ob die Möglichkeit, sich zu bilden, als „Vollzugslockerung“ einzustufen ist.

Weil das Gefängnis ein Abbild der Gesellschaft ist, ist bei angestrebter höherer Bildung auch die finanzielle Situation des Insassen ein Faktor. Fernkurse, Fernstudien kosten Geld. Die Uni Linz bietet ein juristisches Fernstudium an. Zu den Semestergebühren von rund 400.- Euro kommen die Kosten für einen PC oder Laptop und Kosten für die Unterlagen des ersten Studienabschnittes in der Höhe von 1.000.- Euro hinzu.[9] Wer kein eigenes Vermögen „draußen“ oder zahlungsfähige Angehörige hat, wird wohl nicht studieren können.

Post Scriptum

Wenn der geschätzte Leser, die werte Leserin sich fragen sollte: „Warum kümmert sich die Seelsorgerin um Bildung?“, ist die Antwort ganz einfach. Die Reformation ist nicht zuletzt auch eine Bildungsbewegung.

[1] Langenfelder, Bettina: Artikel H wie Häf’n. Basisbildung im Strafvollzug. In: Magazin Erwachsenenbildung. Ausgabe Nr.1, 2007. S. 12-3.

[2]   Siehe dazu auch: Hubka, Christine (2013): Die Haftfalle. Begegnungen im Gefängnis. Edition Steinbauer. S. 103ff.

[3] §48 (1) (2)

[4] Ebd.

[5] http://www.linzer.rechtsstudien.at/de/2/27.html#frage4. 20.5.2017.

[6] Siehe dazu: Langenfelder, Bettina (2007): Artikel: H wie Häf’n. Basisbildung im Strafvollzug. In: www.erwachsenenbildung/magazin. Ausgabe 1/2007. S. 12-1ff.

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Frodl 19.5.2017. (zuletzt bearbeitet am 20. Januar 2016 um 17:23 Uhr)

 

[8] Siehe dazu auch Bundesministerium für Justiz (Hg): Strafvollzug in Österreich. 1. Jänner 2013. S.22.

[9] http://www.linzer.rechtsstudien.at/de/2/27.html#frage4. 20.5.2017.

Individuelles integratives Wohn- und Betreuungsangebot in ganz Österreich!

22 Mittwoch Mrz 2017

Posted by markusdrechsler74 in § 21 Abs 1 - Unzurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher, §21/2, BLICKPUNKTE, Maßnahmenvollzug, Resozialisierung

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Schlagwörter

Individuelles integratives Wohn- und Betreuungsangebot, Marco Uhl, Nachbetreuung, UN-BRK, ZeSa

Ein neues Angebot für „geistig abnorme“ RechtsbrecherInnen im Maßnahmenvollzug.

Das Strafvollzugsgesetz definiert im § 164 Abs. 1 die Thematik wie folgt:

 „Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher soll die Untergebrachten davon abhalten, unter dem Einfluss ihrer geistigen oder seelischen Abartigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen. Die Unterbringung soll den Zustand der Untergebrachten soweit bessern, dass von ihnen die Begehung mit Strafe bedrohter Handlungen nicht mehr zu erwarten ist, und den Untergebrachten zu einer rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten Lebenseinstellung verhelfen.“

Grundsätzlich wird dabei zwischen zurechnungsunfähigen geistig abnormen Rechtsbrechern (§ 21 Abs 1 StGB) und zurechnungsfähigen geistig abnormen Rechtsbrechern (§ 21 Abs 2 StGB) unterschieden.

Sozialarbeit im Spannungsfeld von Kontrolle, Sicherheit und individueller Förderung – eine herausfordernde Arbeit mit einer stark stigmatisierten Klientel!

Im Jahr 2013 wurde die Einrichtung „ZeSa – Zentrum für Soziale Arbeit & Soziale Dienstleistungen“ gegründet und übernahm den ersten Klienten am Standort in Tirol aus dem Maßnahmenvollzug. Auf Anregung von NEUSTART beschäftigte sich ZeSa zunehmend damit, Angebote für eine sehr unterschiedliche Zielgruppe auszuarbeiten. Diese ist inhaltlich schwierig zu definieren, da der Maßnahmenvollzug nach mehreren Kategorien aufgeteilt ist und die Insassen (in Gefängnissen) bzw. PatientInnen (in forensischen Psychiatrien) in ganz Österreich zu finden sind und von der Betreuungsanforderung unterschiedlicher nicht sein könnten.

Inzwischen hat sich das Wohn- und Betreuungsangebot von ZeSa in der Justiz etabliert und verhilft dadurch Menschen, die nach dem § 21.1 oder § 21.2 angehalten werden, eine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug zu ermöglichen. ZeSa hat derzeit Büros in Tirol, Vorarlberg und Wien und kann auch außerhalb der Ballungszentren individuelle Lösungen anbieten.

Wir leisten einen Beitrag zur Erfüllung des Menschenrechtes auf ein Leben in Freiheit!

zesafoto

Wie verläuft die Aufnahme?

Sobald eine geringe Rückfallswahrscheinlichkeit besteht, wird die Entlassung mit größter Sorgfalt und mit klaren Bedingungen in der Justizanstalt vorbereitet. Dies geschieht im Rahmen der Entlassungsvorbereitung und kann durch eine Soneko – Sozialnetzkonferenz – von NEUSTART in einem verbindlichen Rahmen untermauert werden.

Zuweisungskriterien für individuelle Wohn- und Betreuungskonzepte für psychisch kranke StraftäterInnen:

  • Betreuung im Rahmen von Unterbrechung der Unterbringung (UdU) einer Justizanstalt. Diese können eine Entlassungsvorbereitung darstellen und helfen dabei, ein optimales Setting für eine eventuelle Entlassung vorzubereiten.
  • Wohnen und Betreuung nach bedingter Entlassung
    Personen, die nach § 47 StGB bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden und eine gerichtliche Weisung zum betreuten Wohnen erhalten, können in der Wohnbetreuungseinrichtung aufgenommen werden.
  • Wohnen mit Betreuung bei bedingter Einweisung
    Personen, denen per Beschluss die Einweisung in den Maßnahmenvollzug nach § 45 StGB bedingt nachgesehen wird können in der Wohnbetreuungseinrichtung aufgenommen werden

Teilstationäres Betreuungssetting

Bei allen Optionen wird für den Zeitraum der Betreuung ein Wohnplatz zur Verfügung gestellt und hoch qualifiziertes Personal aus den Bereichen Psychologie, Pflege, Pädagogik oder Sozialarbeit unterstützt die KlientInnen bei allen relevanten Thematiken. Dem Bedarf entsprechend ist es bei dem teilstationären Angebot möglich tagesstrukturierend betreut zu werden. Wobei sich im Laufe des Aufenthaltes das Betreuungssetting an die persönliche Entwicklung anpassen kann bzw. soll.

Eine enge Vernetzung mit allen beteiligten SystempartnerInnen, wie z. B. der Bewährungshilfe (NEUSTART), forensischen Ambulanzen (z. B. FORAM) und vielen anderen ist selbstverständlich. Die Finanzierung erfolgt durch den Bund gemäß §179 StVG.

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ZeSa-Gründer Marco Uhl

Kontakt:
ZeSa
Zentrum für Soziale Arbeit & Soziale Dienstleistungen gemeinnützige GmbH
Maximilianstrasse 2
6020 Innsbruck
Tel. +43 680 5521484
www.zesa.at
uhl@zesa.at

Elend und Verantwortung der forensischen Psychiatrie

12 Sonntag Mrz 2017

Posted by markusdrechsler74 in BLICKPUNKTE, Gutachten, Gutachter, Maßnahmenvollzug, Psychiatrie, Resozialisierung

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Schlagwörter

Forensische Psychiatrie, Mario Gmür, Psychiatrie, Schweiz, WOZ

Von den Liberalisierungstendenzen in der Psychiatrie Ende der sechziger Jahre bis zur heutigen Angst, MaßnahmenpatientInnen eine gute Prognose auszustellen: Zum Fünfzigjahrjubiläum der Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie hält der Psychiater Mario Gmür für die WOZ eine Rückschau und berichtet Ungeheuerliches aus dem Alltag der Gerichtspsychiatrie.

Von Mario Gmür

Gmür Mario

Mario Gmür

Meine erste Erinnerung an die forensische Psychiatrie reicht zurück in die Jugendzeit. Der Altmeister der Gerichtspsychiatrie, Professor Hans Binder, damals Direktor der Klinik Rheinau, wollte meinen Vater in einem Café in der Stadt Zürich treffen, um Auskünfte über einen Patienten einzuholen, den er begutachtete. Mich beeindruckte es, dass er ihn im so lockeren Rahmen eines Kaffeehauses befragte. Heute scheint mir das wie ein erster Hauch von Sozialpsychiatrie.

Die zweite Begegnung mit der Gerichtspsychiatrie hatte ich am Ende meines Medizinstudiums. Ich absolvierte das Staatsexamen in Gerichtspsychiatrie und musste ein kurzes Gutachten verfassen. Eine geschlagene Stunde wurde ich mit einer Leiche im Sektionsraum eingeschlossen, um diese zu untersuchen. Es war ein Mann, der sich mit einem Kopfschuss umgebracht hatte. Da mir der Befund schon nach etwa einer Minute klar war, waren die restlichen 59 Minuten von quälender makabrer Langeweile. Den Bericht schrieb ich anschließend in einem Büroraum, den ich mit dem damals emeritierten, hoch angesehenen und lustigen Professor der Gerichtspsychiatrie teilte, der dort am Nebentisch Akten studierte. Kurze Zeit später nahm er sich das Leben, indem er mit einer Überdosis Barbituraten in winterlicher Kälte in einem Wald den Erfrierungstod wählte. Jahre später würde sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl denselben Weg gehen.

Das nächste Kapitel meines forensischen Curriculums folgte kurze Zeit später, als ich nach dem Staatsexamen eine Stelle als Assistenzarzt im Burghölzli antrat, der psychiatrischen Klinik in Zürich. Neben der gewöhnlichen Arbeit mussten alle AssistenzärztInnen drei bis vier Gutachten pro Jahr unter der Aufsicht des Oberarztes anfertigen. Zudem hatten wir auf der Abteilung für Forensik unter Anleitung des Forensikoberarztes drei Monate lang ausschließlich Gutachten zu schreiben. So erlangte man damals den Titel der FMH, der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte: Man verfasste zehn bis fünfzehn dieser Gutachten.

Dabei war die Gutachtertätigkeit unter uns AssistenzärztInnen sehr unbeliebt und schlecht angesehen. Wer sich für das Schreiben von Gutachten interessierte, galt als unbegabter Therapeut, der sich lieber dem Urteilen und Verurteilen verschrieb statt dem Verstehen und Heilen. Andererseits waren es gerade die sprachlich gewandten ÄrztInnen, die sich für das Verfassen von Gutachten eigneten und die deshalb auch eher zu OberärztInnen befördert wurden. Die besten Beispiele dafür sind Chefs und Oberärzte wie Eugen Bleuler, Klaus Ernst, Hans Kind, Emanuel Hurwitz, Berthold Rothschild oder Ambros Uchtenhagen – sie waren zwar eher therapeutisch engagiert, hatten aber die hohe Gabe, konzise Gutachten aus dem Ärmel zu schütteln. Bei uns AssistenzärztInnen hingegen war das Verfassen eines Gutachtens oft eine Zangengeburt.

Die meisten PsychiaterInnen verabschiedeten sich nach der Ausbildung von der Gutachtertätigkeit. Einige wenige beamtenhafte Seelen gaben das Therapieren völlig auf und verlegten sich auf das Verfassen von Gutachten, die besonders streng und moralisierend ausfielen. Es waren zum Teil regelrechte Beschimpfungsgutachten. Ich erinnere mich an einen übereifrigen Gutachter mit Praxis an der Bahnhofstrasse, der für den zu Begutachtenden die Todesstrafe als angemessene Strafe bezeichnete.

Empathie und Liberalisierung

Ende der sechziger Jahre kamen weltweit Liberalisierungsbestrebungen in der Psychiatrie auf. Und in den siebziger Jahren meldeten sich in der Schweiz auch in der Forensik kritische Stimmen. Es entstand eine Bewegung gegen die Isolationshaft, man protestierte gegen die psychischen Schäden als Folge langer Inhaftierungen. Doch kritische Stimmen wurden obrigkeitlich unterdrückt. So wurde dem Psychiater Berthold Rothschild von der Zürcher Regierung die Leitung einer neuen Gutachterstelle im Psychologischen Institut verweigert, obwohl er ein exzellenter Gutachter war. Die vorgeschobene Begründung: Er habe anlässlich eines folkloristischen Strassentheaters eine Puppe mit Phallus gezeigt und sich durch diesen exhibitionistischen Fehltritt als Gutachter disqualifiziert. Im Geist des paranoid gefärbten Fichenstaates wurde streng darauf geachtet, dass keine psychiatriekritischen Elemente in leitende Stellungen gelangten.

Allerdings gab es auch eine an psychodynamischen Konzepten orientierte, empathische forensische Psychiatrie, wie sie etwa Ronald Furger vertrat, der Chefarzt der Psychiatrischen Poliklinik Winterthur, der auch die Pestalozzi-Jugendstätte Burghof und die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon betreute. Die Klassiker der jugendpsychologischen Literatur wurden gründlich gelesen und diskutiert, projektive Testverfahren wie Baum- und Rorschachtest in Intensivkursen gelernt. Es herrschte eine Haltung von Zuversicht und Wohlwollen auch gegenüber Delinquenten und Delinquentinnen – nicht eine Akzeptanz ihren Verbrechen gegenüber, aber eine vorurteilslose Neugier für die biografischen und psychosozialen Gründe und Hintergründe des Delikts: verstehen statt strafen. Pessimismus war gewissermaßen verboten. Defizite in der Persönlichkeit der PatientInnen wurden durch Zuwendung und Klärung innerer Konflikte zu beheben versucht. Konfrontative Interventionen erfolgten in dafür geeigneten Beziehungsmomenten. Die Gefahr eines naiven Optimismus wurde durch diese eher permissive und wohlwollende Haltung in Kauf genommen. Andererseits wurden Entwicklungschancen weniger abgewürgt und eine Verhärtung der delinquenten Persönlichkeit eher vermieden als bei den harten psychotherapeutischen Praktiken, die heute en vogue sind.

Psychiatrie mit totalitären Zügen

Die große Wende kam Anfang der neunziger Jahre. Es handelte sich um eine eigentliche Kulturrevolution. Psychoanalyse und Sozialpsychiatrie, die ab den sechziger Jahren Aufbruchsstimmung geschaffen hatten, wurden in die Ecke gedrängt. An ihre Stelle traten kognitive und behavioristische Methoden, statistische Untersuchungen und Hirnpsychologie und gaben fortan den Ton an. Es erfolgte eine Reneurologisierung der Psychiatrie. «Messen» und «zählen» waren die neuen Zauberwörter. Psychoanalytische Ausbildungen und Literatur gingen zurück. Wer an einer Universität habilitieren wollte, achtete darauf, dass er entweder eine somatische Arbeit (Lebererkrankungen bei Alkoholismus) oder statistische Untersuchungen (Erfolgsmessungen) einreichte.

Diese Veränderung schlug sich etwas später auch auf die Gutachten nieder. Nach dem «Mord am Zollikerberg» im Jahr 1993, als der sich im Hafturlaub befindliche Erich Hauert die zwanzigjährige Pfadiführerin Pasquale Brumann tötete, folgte ein Umbau der forensischen Psychiatrie, die immer mehr totalitäre Züge annahm. Man kann auch von einer Säuberungsaktion reden, von der auch ich betroffen war: Alle frei praktizierenden GutachterInnen mussten – als wären sie AnfängerInnen – eine Reihe von Gutachten einem Leiter eines forensischen Instituts zur Bewertung unterbreiten und somit die Gutachten nach dessen Vorstellungen verfassen. Bald gründeten die institutionellen GerichtspsychiaterInnen eine schweizerische Gesellschaft für forensische Psychiatrie und erteilten sich gleich selber eine Lizenz, die sie den frei praktizierenden PsychiaterInnen verweigerten. Die Gutachten waren fortan weitgehend nach einem Muster zu erstellen und zu formulieren, das in der Schweiz von Professor Volker Dittmann und Professor Frank Urbaniok entwickelt wurde. Die Diagnosen wurden nach den Kodifizierungssystemen ICD 10 und DSM IV gestellt, die nach Auffassung vieler kritischer PsychiaterInnen die Krankheiten und Persönlichkeiten nur mangelhaft erfassen und vor allem für statistische und Forschungszwecke und weniger für klinische Fälle geeignet sind. Ein Hauptakzent wurde auf die Beurteilung der Prognose aufgrund von statistisch ausgewerteten, teilweise recht zweifelhaften Prognoseinstrumenten gelegt. Die klinische und psychodynamische Beurteilung wurde einer Analyse der Häufigkeit von Merkmalen wie Geschlecht, Schulerfolg, Zivilstand geopfert. Der Patient wurde zu einem Gefangenen seines prognostischen Statistikbefunds.

Die Zollikerberg-Affäre und die immer wiederkehrende Thematisierung von spektakulären Straftaten oder Fehlleistungen in der Justiz durch eine sensationsgierige, moralinversprühende Medienöffentlichkeit haben zu einem paranoid gefärbten Angstklima geführt, in dem die Justiz die Verantwortung für Rückfalldelinquenz mit Vorliebe der Psychiatrie zuweist. Das führte zu einer ständigen Zuständigkeitserweiterung der Gerichtspsychiatrie. Heute beurteilt sie nicht nur klinisch bedeutsame Fälle wie bei den Diagnosen Schizophrenie und Drogensucht oder schweren Neurosen, sondern auch gewöhnliche Fälle, wo dann meist eine «dissoziale Störung» und eine «emotional labile Persönlichkeitsstörung» festgestellt werden – eine Diagnose, die man bei jedem herumschreienden Fußballer oder ausfälligen Politiker stellen könnte.

Die gefährliche Macht der Forensik

Die Gerichte ordnen wegen dieser extensiven Diagnostik der Psychiatrie vermehrt eine sogenannte kleine Verwahrung statt einer gewöhnlichen Strafe an. So hängt das Ende des Freiheitsentzugs von der Beurteilung der Psychiatrie ab. Und weil diese besonders empfindlich auf Kritik bei Fehlbeurteilungen reagiert, hütet sie sich davor, eine gute Prognose zu stellen. Folglich ist der Freiheitsentzug oft wesentlich länger als die «verdiente» Strafe. Wenn man den Rechtsstaat definiert als ein Land, das gerechte, dem Delikt angemessene Strafen verhängt, dann muss man sagen, dass die Psychiatrie ihn hier aushebelt.

Das Versagen der heutigen Psychiatrie ist daran zu erkennen, dass sie bei der Durchführung der Behandlung von medizin- und psychiatrieethischen Grundsätzen abweicht:

Erstens setzt sie die MaßnahmenpatientInnen unter Druck, indem sie von ihnen verlangt, das Arztgeheimnis preiszugeben – andernfalls werde die Therapie verweigert. Das kommt einer Nötigung gleich, weil mit der Ablehnung der Therapie eine Strafverschärfung droht, etwa durch Versetzung in die Verwahrung.

Das gilt, zweitens, auch für die Erwartung, der Patient, die Patientin müsse sich in der Therapie öffnen: Tun sie das nicht, droht ihnen ein schlechter Verlaufsbericht. Dadurch wird das im Strafverfahren garantierte Recht, Aussagen zu verweigern, faktisch aufgehoben.

Drittens stellen die langjährigen Zermürbungstherapien, bei denen Delikte endlos durchgearbeitet werden, eine Form von Gehirnwäsche dar.

Viertens sind Therapien, die das Gefühlsleben bearbeiten, ebenfalls eine Persönlichkeitsverletzung, wenn keine freie TherapeutInnenwahl besteht.

Fünftens ist die Ausbildung der TherapeutInnen oft äußerst einseitig und mangelhaft.

Im ungünstigsten Fall wird also ein unschuldig verurteilter Täter gezwungen, ein falsches Geständnis abzulegen, in der Therapie Vergewaltigungsfantasien oder pädophile Neigungen vorzutäuschen und sich einer Behandlung durch einen ihm unsympathischen Therapeuten zu unterziehen, zu dem er kein Vertrauensverhältnis aufbauen kann.

Kurz: Die heutige Art der therapeutischen Maßnahmen ist sittenwidrig und stellt ein trauriges Kapitel der Psychiatrie dar, das früher oder später einmal kritisch aufgearbeitet und verurteilt werden dürfte.

Missgriffe, Überforderungen

Jede Berufsausübung – insbesondere interdisziplinäre – gewährt Einblick in benachbarte Bereiche. Ich habe schon in früheren Jahrzehnten Missstände und empörende Vorkommnisse zur Kenntnis nehmen müssen. Sie sind oft so krass, dass man sie nicht gerne erzählt, da sie unglaubhaft erscheinen könnten. Außerdem bin ich es von Berufes wegen gewohnt, Diskretion zu üben. Als Arzt meidet man auch so weit wie möglich Kritik an KollegInnen. Andererseits sind opportunistisches Anpassen und Schweigen problematisch und belastend. Ab einer gewissen Lebenserfahrung wirft man gerne einen Teil davon ab und schafft sich damit Erleichterung …

Vor Jahren suchte mich ein Patient wegen eines Eheproblems auf. Er war von bürgerlichem Habitus, hatte eine gute Stelle in einer Gemeinde und war nebenamtlicher Richter in einem Laiengericht. Er vertraute mir an, dass er in jugendlichem Alter ein «schwerer Junge» gewesen sei und wegen Einbrüchen immer wieder eingesessen habe. In dieser Zeit habe er während eines Urlaubs an einem Dorffest einen Polizisten mit einer spöttischen Bemerkung provoziert. Als er wieder im Gefängnis gewesen sei, habe sich einige Zeit später völlig überraschend die Tür seiner Zelle geöffnet. Der besagte Polizist sei eingetreten und habe ihm zwei saftige Ohrfeigen verpasst und gesagt: «Pass auf, was du sagst!» Offensichtlich hatte ein Angestellter der Strafanstalt diesem Überraschungsgast den Zugang ermöglicht. Der Häftling habe daraufhin eine Beschwerde an den Anstaltsdirektor geschrieben mit der Bitte, diese an den zuständigen Regierungsrat weiterzuleiten. Nach recht langer Zeit sei er vom Direktor ins Büro bestellt worden, wo dieser ihn vor die Wahl gestellt habe: entweder auf der Weiterleitung der Beschwerde zu bestehen (was ihm eine Arreststrafe in der Dunkelzelle wegen Beleidigung des Polizisten eingebracht hätte) oder aber die Beschwerde zurückzuziehen. Der Häftling gab resigniert nach.

Ein anderer, viele Jahre zurückliegender, Vorfall schien mir ebenfalls glaubhaft, da der Patient, den ich zu begutachten hatte, diesen nur beiläufig andeutete und mir nur auf mein Nachhaken erzählte. Er habe sich spätabends mit einem Drogendealer auf einem Parkplatz verabredet und sei bei der Begegnung von der Polizei in flagranti verhaftet worden. Nachdem er auf dem Polizeiposten verhört worden war, habe er in einer Haftzelle warten müssen. Da öffnete sich plötzlich die Tür, und ein Wärter richtete eine Pistole auf ihn und sagte: «Wenn du meinem Sohn Drogen verkaufst, erschieß ich dich!» Er sei noch in der Nacht entlassen worden und habe wegen dieses üblen Scherzes nie Anzeige erstattet.

Heute kommen solche plumpen Missgriffe wohl kaum mehr vor. Die Inhaftierten, vor allem auch Maßnahmenpatientinnen, erleben aber nach meiner Erfahrung das therapeutische Personal oft als schikanös, zum Teil als unreif, instabil und überfordert und die Therapien als unergiebig. Viele Angestellte können sich mit der Art der therapeutischen Maßnahme nicht identifizieren, sind aber auf ihre Stelle angewiesen und bewahren über ihre Beobachtungen Stillschweigen. Bemerkenswert ist allerdings, dass wiederholt höhere Funktionäre der Justiz kurz nach ihrer Pensionierung ihr Missfallen über die Verhältnisse zum Ausdruck brachten. Aber im aktuellen politischen Klima holt kaum jemand Lorbeeren, wenn er für den Rechtsstaat auf die Barrikaden steigt.

Sadisten, Edeldirnen

Neben Unerfreulichkeiten gibt es auch handfeste Skandale. Ein aktueller Fall, der mich besonders beschäftigt, betrifft eine leitende Persönlichkeit im Massnahmenvollzug. Seit Jahren zirkuliert in einer Haftanstalt das Gerücht eines Missbrauchs von einem Häftling durch diesen Psychologen in leitender Position. Die beiden sollen sich bei einem zufälligen Blickkontakt in den Räumen der Anstalt wiedererkannt haben. Der Häftling war sich sicher, dass der Mann als Freier in einer Stadt in Deutschland seine Dienste beansprucht hatte, wo er über Jahre als Stricher unterwegs gewesen war. Dabei habe dieser ihn durch einen nicht vereinbarten, ungewöhnlich brutalen sadistischen Übergriff in Angst und Schrecken, gar in Todesangst versetzt. Von anderen Häftlingen erfuhr er, dass dieser früher in einer Maßnahmenvollzugsanstalt jener Gegend als Psychologe gearbeitet habe. Der redselige Häftling wurde wegen persönlichkeitsverletzender Aussagen vom Psychologen angezeigt und zu einer Zusatzstrafe verurteilt. Sein Anwalt beauftragte einen Psychiater mit einem Untersuchungsgespräch, um die Zumutbarkeit einer Therapie in der Anstalt unter der Regie des Psychologen abzuklären. Der Häftling beschrieb diesem detailliert die damaligen Verhältnisse der Wohnung des Psychologen, bei dem er als Stricher empfangen worden war. Nachdem die damalige Wohnadresse ausfindig gemacht werden konnte, erfolgte eine Überprüfung vor Ort. Und die Erinnerungen an die überaus besonderen Merkmale erwiesen sich als zutreffend.

Es spricht also einiges dafür, dass die Maßnahmenpatienten seit Jahren von einem überaus sadistisch veranlagten Psychologen in höchst verantwortlicher Position betreut und beurteilt werden.

Eine andere problematische Begebenheit wurde mir von einem Anwalt zugetragen: Seine Klientin, eine Edeldirne, suchte ihn am Tag nach der Urteilsverkündigung in der Kanzlei auf. Er äußerte ihr gegenüber sein blasses Erstaunen über das außergewöhnlich milde Urteil. Sie präsentierte ihm des Rätsels Lösung, nämlich, dass sie mit dem Vorsitzenden der Verhandlung einige Tage zuvor «in der Pfanne» gewesen sei. Solche Missstände werden meistens auch in einem demokratischen Rechtsstaat nicht moniert, weil jedes Teilkollektiv, private oder öffentliche Einrichtungen und Gemeinschaften, wie eine kleine Diktatur funktioniert, wo Angst und Paranoia, Unterordnung und Anpassung herrschen. Das gilt auch für die Medien, die sich feige und opportunistisch dem Populismus verschreiben.

Nachdem ich meine Pflichtgutachten während der Ausbildung verfasst hatte, schrieb ich als Oberarzt im sozialpsychiatrischen Dienst in den achtziger Jahren weiterhin Gutachten und supervisierte auch jene der AssistenzärztInnen. Eine Anfrage, ob ich mich für die Leitung der Forensik in der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel mit Aussicht auf eine Professur bewerben würde, wies ich wegen des im psychotherapeutischen Milieu eher zweifelhaften Ruhms dieses Gebiets ab. Und als ich eine Praxis in Zürich eröffnete, bewarb ich mich aus dem gleichen Grund auch nicht um die nebenamtliche Tätigkeit als Bezirksadjunkt. Später nahm ich aber doch Gutachteraufträge an, was mir Genugtuung brachte, weil ich so einen Ausgleich zur psychotherapeutischen Tätigkeit hatte. Auch war die interdisziplinäre Tätigkeit mit Einblick in schwer zugängliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens attraktiv. Ausserdem befriedigte die Arbeit auch meine kriminalistischen Interessen.

Hundert Seiten unlesbarer Stil

Es taten sich auch Konfliktfelder mit KollegInnen auf, die unsere Kollegialität nachhaltig belasteten. Solche Konflikte entstanden schon vor der «Kulturrevolution», weil ich schon damals KollegInnen hatte, die nach meinem Empfinden widerwärtige Gutachten schrieben. Jahrelang lag die Leitung der forensischen Psychiatrie in den Händen eines Psychiaters, der die Patienten und Patientinnen in süffisant-herablassendem Ton befragte, zum Teil über hundert Seiten lange Berichte verfasste, in einem unlesbaren Stil schrieb und letztlich meist vernichtende Kritik an den Begutachteten übte. Andere KollegInnen schrieben Hunderte von Gutachten in hektisch hingeworfenen, flüchtigen Formulierungen, oft nach sehr oberflächlichen Untersuchungen und ohne Umgebungsabklärungen. Ich schämte mich meiner Zunft.

Vielleicht ist meine Rückschau von einem allzu negativen Ton geprägt. Vielleicht müsste man gewisse Missstände geduldig ertragen wie rheumatische Beschwerden im Alter. Aber in so sensiblen Bereichen wie der Gerichtspsychiatrie, der Medizin oder dem Recht wird über höchste Lebensgüter entschieden. Entsprechend hoch müssen die Ansprüche an die Qualität sein.

Erschienen in der WOZ Die Wochenzeitung (CH) Nr. 45/16 vom 10.11.2016

Der Autor: Mario Gmür

Der Psychiater Mario Gmür (71), Autor verschiedener Bücher, hatte als erfahrener Psychotherapeut und Gutachter tiefe Einblicke in das Zürcher Justizsystem. Er gehört zu den wenigen beständigen KritikerInnen der forensischen Psychiatrie, wie sie ab den neunziger Jahren unter Frank Urbaniok, dem Chefarzt des Psychiatrisch-psychologischen Dienstes Zürich, Einzug gehalten hat.

Mario Gmür lebt und arbeitet in Zürich. Zuletzt erschien sein Erzählband «Meine Mutter weinte, als Stalin starb» im Salis-Verlag.

Offener Brief eines Untergebrachten

20 Freitag Jan 2017

Posted by markusdrechsler74 in §21/2, Bundesministerium für Justiz, JA Mittersteig, Maßnahmenvollzug, Reform Maßnahmenvollzug, Resozialisierung

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Schlagwörter

21/2, Bundesministerium für Justiz, Günter Schwedt, Offener Brief, Wolfgang Brandstetter

Und erreichte ein offener Brief eines im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 2 StGB untergebrachten, der sich zur Zeit in der Aussenstelle der JA Mittersteig befindet.

Wir veröffentlichen dieses Schreiben an den Justizminister kommentarlos.

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Der „geistig abnorme Rechtsbrecher“ in Österreich

10 Donnerstag Nov 2016

Posted by markusdrechsler74 in Maßnahmenvollzug, Resozialisierung

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Schlagwörter

Elisabeth Wintersberger, JA Göllersdorf, OLG Wien, Psychopharmaka, UN-BRK, Unterbringungsgesetz, VertretungsNetz, Zwangsbehandlung

Herr S. ist 72 Jahre alt und seit 27 Jahren in einer Sondervollzugsanstalt gem. § 21 Abs. 1 StGB als geistig abnormer Rechtsbrecher untergebracht. Herr S. ist kein Mörder, kein Vergewaltiger, kein Terrorist und kein Bankräuber; er brach im Jahr 1989 in ein leerstehendes Haus ein, schaltete den Fernseher ein, ließ sich mit Bier und Chips auf der Couch nieder und beschloss, dass das nun sein Haus sei. Die von Nachbarn verständigte Gendarmerie versuchte, ihn hinaus zu „begleiten“, Herr S. wehrte sich, drohte, alle umzubringen, schlug mit einem Holzstück auf den Gendarmen ein, der auf Herrn S. fünf Schüsse aus seiner Dienstpistole abgab und ihn schwer verletzte.

Herr S. wurde wegen gefährlicher Drohung und (leichter) Körperverletzung eines Beamten in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen;

Fünf Jahre später wurde die Unterbrechung der Unterbringung, kurz vor der bedingten Entlassung, wegen „Disziplinlosigkeit“ abgebrochen und es fanden seit 1994 keinerlei Versuche einer Entlassungsvorbereitung mehr statt.

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Justizanstalt Göllersdorf (NÖ) – Foto: Blickpunkte

Herr S. verfügt weder über Krankheitseinsicht noch Krankheitsgefühl, dennoch ließ er hochdosierte Neuroleptikagaben 20 Jahre über sich ergehen. 2010 verweigerte er, nach über 20 Jahren Haft, erstmalig die Setzung der wöchentlichen Psychopharmakainjektion und erklärte es ruhig und höflich damit, dass ihm Häufigkeit und Dosis zu viel seien. Fünf Beamte des Sonderkommandos mit Schild, Helm und Gesichtsschutz warfen den 66-Jährigen zu Boden, fixierten ihn mit Armwinkelsperre und brachen ihm dabei die Schulter. Eine Bewilligung der Zwangsbehandlung lag nicht vor, die Vollzugsanstalt rechtfertigte ihr Vorgehen mit Gefahr im Verzug. Gegenüber der behandelnden Krankenanstalt wurde als Ursache der Verletzung „Raufhandel“ angegeben (und ein Strafverfahren gegen Herrn S. eingeleitet), der Krankenversicherung wurde mitgeteilt, es habe sich um einen „Sturz ohne Fremdverschulden“ gehandelt. Die postoperative Versorgung der verletzten Schulter versagte, Herr S. kann seinen Arm nur noch sehr eingeschränkt bewegen. Ausgelöst durch seine Diabeteserkrankung musste vor wenigen Monaten ein Unterschenkel amputiert werden.

Die kürzlich erfolgte Entscheidung des zuständigen Oberlandesgerichtes lehnte die bedingte Entlassung des alten Mannes ab, weil er nach wie vor krank und seine „Gefährlichkeit noch nicht hinreichend abgebaut“ sei.[1]

Die Idee und Grundkonzeption der vorbeugenden Maßnahmen ist über 100 Jahre alt: Die im ausgehenden 19. Jahrhundert heftig umstrittene Einführung des neuen, unbestimmten und unbestimmbaren Kriteriums der „Gefährlichkeit“ des Täters war dem Strafrecht, das bis dahin ausschließlich dem Schuldprinzip verpflichtet war, fremd; der Strafrechtsänderungsentwurf 1912, der bereits nahezu wortgleiche „Sicherungsmaßnahmen“ enthielt, trat nie in Kraft.

Erst nach mehr als 60 Jahren und drei weiteren Versuchen einer Normierung, fand schließlich das Merkmal der krankheits- bzw. behinderungsbedingten „Gefährlichkeit“ eines Straftäters in Form der vorbeugenden Maßnahmen 1975 in das Strafrecht Eingang; die grundsätzlich unbefristete Anhaltung in Sondervollzugsanstalten und Psychiatrien als Reaktion auf die durch den zurechnungsunfähigen Rechtsbrecher begangene, schwere Straftat des § 21 Abs. 1 StGB war geboren.

1975 für damals ca. 200 „geistig abnorme Rechtsbrecher“ konzipiert und vorerst nur zögerlich angewendet, erfreute sich die Maßnahme gem. § 21 insbesondere seit den 90er-Jahren so großer Beliebtheit, dass heute bereits jeder 10. Häftling in Österreich ein Maßnahmenhäftling ist.

In den nunmehr 40 Jahren praktischer Anwendung wurde § 21 StGB nur geringfügig im Jahr 2010 durch die Herausnahme von Vermögensdelikten als Anlasstat reformiert; Anpassungen an die später ergangenen, themenverwandten Gesetze (BVG zum Schutz der persönlichen Freiheit, UbG und HeimAufG) fanden ebenso wenig statt, wie eine Orientierung der Auslegung an übergeordneten Vorschriften aus Verfassungs- und Menschenrechtsregelungen, insbesondere der UN-Behindertenrechtskonvention.

Ungeklärt blieb auch bis heute, in welchem Verhältnis § 21 Abs. 1 StGB und das Unterbringungsgesetz rechtlich und faktisch zueinander stehen: Die Praxis der Vereinssachwalter kennt in vielen Fällen das unerklärliche Faktum, dass ein Klient, der vor der Maßnahmenunterbringung im Rahmen einer Vielzahl von Anhaltungen gemäß Unterbringungsgesetz mit demselben „Fremdgefährdungsgrund“, zum Beispiel der gefährlichen Drohung, meist nach ein bis zwei Tagen wieder entlassen wird, weil nach Einschätzung der Psychiatrie keine ernstliche und erhebliche Gefahr mehr von ihm ausgeht; während derselbe Klient als Maßnahmenhäftling oft auch nach Jahren des Freiheitsentzuges und der Zwangsbehandlung nicht gesund und nicht ungefährlich genug ist, um entlassen werden zu können.

Die Tatsache, dass ca. 80% der Anlasstaten der gem. § 21/1 Untergebrachten Drohungen oder Straftaten sind, die nur als Versuch verwirklicht wurden, weist darauf hin, dass die Maßnahme die Funktion des Unterbringungsgesetzes übernommen und sich zu einer „Gefährdungs-Abwendungs-Bestimmung“ entwickelt hat. Im Vordergrund stehen nicht mehr, wie im Strafrecht typisch und gefordert, tatsächlich begangene Straftaten mit schweren Folgen, sondern die (psychiatrische) Vermutung, dass solche Straftaten zu befürchten sein könnten.

Während das Unterbringungsgesetz – laut den zuständigen Psychiatrien aufgrund mangelnder Ressourcen – zunehmend nicht mehr vollzogen, seine Funktion als „Gefährdungs-Abwendungs-Gesetz“ nicht mehr erfüllt wird, konnte sich „neben“ dem Unterbringungsgesetz die Wiederauferstehung der Langzeitpsychiatrie in Form der Forensik etablieren.

So wie vor Einführung des UbG die oft jahrelangen Anhaltungen in der Psychiatrie in weitgehend „rechtsfreiem“ Raum stattfanden, scheint auch die „Attraktion“ der Forensik in ihrer weitgehenden Unkontrolliertheit zu liegen. Wie vormals die Langzeitpsychiatrie kennt auch der Maßnahmenvollzug keine gesetzliche Vertretung analog zu den Patientenanwälten im UbG, lässt keine wirksame Kontrolle der Zwangsbehandlung zu und verwehrt Pflichtverteidigung im Entlassungsverfahren.

Lediglich gefährdendes Verhalten gesunder Menschen zu sanktionieren, ist dem Strafrecht weitgehend fremd; niemand würde ernsthaft einfordern, dem rücksichtslosen Autoraser, der täglich zahlreiche Menschen gefährdet, gewaltbereiten Ehemännern, deren Verhalten die Frauenhäuser füllt, oder dem betrunkenen Wirtshausschläger, der regelmäßig seine Aggressionen an den Nasen anderer abbaut, „vorbeugend“ die Freiheit zu entziehen, um Straftaten mit schweren Folgen zu verhindern – weil solche Straftäter als „gesund“ gelten.

Auch der „normale“ Straftäter hat sich mit seiner Straftat per se als „gefährlich“ für die Rechtsgüter anderer Menschen erwiesen, dennoch stellt sich die Frage, ob er nach Verbüßung seiner grundsätzlich befristeten Strafe entlassen werden soll, auch dann nicht, wenn zahlreiche Vorstrafen und die statistische Wahrscheinlichkeit von ca. 40% eine neuerliche Straftat nach Entlassung nahe legen.

Die Regelungen zur vorbeugenden Maßnahme sind von zahlreichen, zweifellos den psychisch kranken gegenüber den „normalen“ Straftäter diskriminierenden Sonderbestimmungen geprägt:

Während das allgemeine Strafrecht Abstufungen der Sanktion in Form von Milderungs- und Strafverschärfungsgründen kennt, die die Schwere der Tat abbilden sollen, und im Sinn weitgehender Vermeidung des Freiheitsentzugs, zunehmend vorgelagerte Alternativen wie Geldstrafen, Diversion oder elektronische Fußfessel zur Verfügung stellt, kennt das Maßnahmenrecht nur eine mögliche Reaktion auf die Straftat eines beeinträchtigten Täters – nämlich den oft jahrelangen Freiheitsentzug, gleichgültig, ob es sich bei der Anlasstat um eine Drohung oder mehrfachen Mord gehandelt hat.

Auch die Frage, ob die Anlasstat objektiv und vor allem subjektiv überhaupt begangen wurde, der zurechnungsunfähige Täter also überhaupt fähig war, einen Vorsatz zu fassen, wird in der Praxis kaum geprüft – stellt doch die Anlasstat nur das verfassungsrechtlich notwendige „Eingangstor“ zum eigentlichen Zweck der Maßnahme dar: die Gesellschaft vor der Gefährlichkeit der Geisteskranken zu schützen.

Nicht zuletzt die 2008 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention legt in ihren „Leitlinien zu Artikel 14“ unmissverständlich fest, dass die Bestimmungen des Maßnahmenrechts diskriminierende Ungleichbehandlung beeinträchtigter Menschen darstellen und führen aus:

„14. Menschen mit geistigen oder psychosozialen Beeinträchtigungen werden häufig als sich selbst oder anderen gegenüber gefährlich angesehen, wenn sie medizinischer oder therapeutischer Behandlung nicht zustimmen bzw. sich dieser widersetzen. Alle Menschen, einschließlich jener mit Behinderungen, sind dazu verpflichtet, keinen Schaden anzurichten. Rechtssysteme haben diesbezüglich Straf- oder andere Gesetze, um gegen den Verstoß dieser Verpflichtung vorzugehen. Menschen mit Behinderungen wird häufig der gleichgestellte Schutz durch diese Gesetze vorenthalten, indem auf sie andere Gesetze angewendet werden, einschließlich jener für psychisch Kranke. Diese Gesetze und Vorgehensweisen haben gewöhnlich einen niedrigeren Standard in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte, insbesondere im Bereich des Rechts auf ein rechtliches Gehör und ein faires Verfahren, und verstoßen gegen Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 14 des Übereinkommens.“

Tatsächlich ist das eigentlich privilegierende Faktum der „Schuldlosigkeit“ des kranken Täters längst in sein Gegenteil verkehrt und zu einer Verschärfung der Tatfolgen geworden. Gerade weil der Täter an einer psychischen Krankheit leidet und diese per se mit Gefährlichkeit gleichgesetzt wird, ist der Freiheitsentzug für minderschwere Delikte ungleich wahrscheinlicher und um ein Vielfaches länger als jener, mit dem ein gesunder, geplant und bewusst gegen Strafnormen verstoßender Täter zu rechnen hat.

Die letztlich einzig relevante Frage, die nach der „Gefährlichkeit“ des Täters, beantworten psychiatrische Sachverständige; abgesehen von der ohnehin kaum erfüllbaren Anforderung, überhaupt eine langfristige Gefährlichkeitsprognose abzugeben, weil – so die Psychiaterin Gutierrez-Lobos –  „Gefährlichkeit ein soziales Konstrukt, keine psychiatrische Diagnose (ist)“[2], beanstanden zahlreiche Studien mangelnde Qualität der Gutachten und wenig Bewusstsein hinsichtlich der schweren Konsequenzen gutachterlicher Aussagen für den Betroffenen.

In der Praxis wird die Einweisungs- oder Entlassungsentscheidung nahezu ausnahmslos und vollständig von der Empfehlung des Sachverständigen bestimmt; das Strafrecht hat damit seine ureigenste Aufgabe, die Verletzung strafrechtlicher Normen zu sanktionieren, der Medizin überlassen – aber weder Gutachter noch Gericht wollen die Verantwortung einer Nicht-Einweisung übernehmen, sie könnte schließlich auf einer Fehleinschätzung der Gefährlichkeit beruhen; im Fall der Einweisung und jahrelangen Anhaltung besteht hingegen für die handelnden Personen und Behörden  keinerlei Risiko, in irgendeiner Form „belangt“ zu werden.

Die Gleichsetzung von psychischer Krankheit mit Gefährlichkeit drückt sich aber auch über die Anhaltung hinaus in weiteren Sonderbestimmungen aus, die auch noch nach bedingter Entlassung zum Tragen kommen:

So ist die Entlassung nur bedingt, also unter Setzung einer Probezeit von zumindest fünf Jahren, und in der Praxis nur mit einer Fülle von Weisungen möglich; fast ausnahmslos hat der bedingt Entlassene Aufenthalt in einer meist vollbetreuten Wohneinrichtung zu nehmen und Akzeptanz gegenüber der psychiatrischen Behandlung unter Beweis zu stellen.

Die Möglichkeit, die Probezeit und damit auch die Aufrechterhaltung der Weisungen  bis zu lebenslang zu verlängern, sorgt dafür, dass ein unter Umständen lebenslanger „Behandlungs- und Betreuungszwang“ stattfindet, der weder als die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts deklariert wird, die er ist, noch ist diese Situation effektiver Kontrolle oder Überprüfbarkeit zugänglich.

Die medizinische Behandlung im Maßnahmenvollzug

Die Besonderheit des Maßnahmenvollzugs besteht darin, als „Behandlungsvollzug“ konzipiert zu sein, der durch Therapie und medizinische Behandlung den Zustand des Rechtsbrechers so weit bessern soll, dass keine weiteren Straftaten mehr erwartet werden müssen.

Die österreichische Rechtsordnung definiert und benennt Zwang im Zusammenhang mit medizinischer Behandlung generell ungern; während jüngste Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts Behandlungszwang orten, wo keine eindeutige Zustimmung vorliegt, beginnt der Zwang in Österreich erst dann, wenn der Betroffene „Ablehnung zu erkennen gibt“ oder physischer Widerstand überwunden werden muss. Menschen, die nicht (mehr) äußerungsfähig sind, aus Angst oder Resignation die Behandlung über sich ergehen lassen, werden nicht „gezwungen“ und unterliegen damit auch keinem besonderen Rechtsschutz.

§ 69, die Zwangsbehandlungs-Regelung des StVG, trifft keine Unterscheidungen hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit des Häftlings und normiert damit die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung allen nationalen und internationalen Vorgaben zum Trotz (auch) für entscheidungsfähige Menschen.

Rechtsschutz durch gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Überprüfung existiert nicht, die grundsätzliche Möglichkeit einer Beschwerde an die Vollzugsbehörde zieht weder ein normiertes Verfahren noch die Verpflichtung bescheidmäßiger Erledigung nach sich. Darüber hinaus normiert eine weitere Sonderbestimmung für  Maßnahmenhäftlinge, dass ihre Beschwerden, sofern und weil sie auf die geistige oder seelische Abartigkeit rückführbar sind, ohne weiteres Verfahren zurückzulegen sind.

Weil weder das Strafvollzugsgesetz, noch die Sonderregelungen der vorbeugenden Maßnahme  Aussagen zur Behandlung des entscheidungsunfähigen Häftlings treffen, bleibt die Frage der wohl auch im Strafvollzug notwendigen Zustimmung zu medizinischen Behandlungen unbeantwortet.

In der Praxis ist unzweifelhaft davon auszugehen, dass insbesondere die Behandlung mit meist höchst dosierten Psychopharmaka ohne Zustimmung des Betroffenen, oft auch mit physischem Zwang stattfinden; die Zulässigkeit und Erforderlichkeit vertretungsweiser Zustimmung durch einen Sachwalter wird von mehreren Strafgerichten verneint. So stellte das OLG Wien fest, dass der Wirkungsbereich des Sachwalters „Vertretung bei medizinischen Heilbehandlungen“ nur für körperliche Erkrankungen anzuwenden sei, wohingegen die psychiatrische Behandlung „Sache“ der Anstalt sei; das OLG Linz sprach aus, dass das Strafvollzugsgesetz im Fall des Vollzugs in der Psychiatrie zwar die Anwendung der entsprechenden Bestimmungen des Unterbringungsgesetzes – und damit die notwendige Zustimmung durch den Sachwalter – normiere, sich aber die rechtlichen Voraussetzungen der Maßnahme von den Bestimmungen des UbG deutlich unterscheide, weshalb die – eindeutige – Verweisbestimmung des StVG unbeachtlich sei.

Zu vermuten ist in diesem Zusammenhang, dass weder Vollzugsanstalten, noch Psychiatrien oder Vollzugsgerichte Interesse an der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen und der damit verbundenen rechtlichen Kontrolle der derzeit unbeschränkten ärztlichen Behandlungsmacht haben.

Im Gegensatz zu Aussagen des deutschen Verfassungsgerichts, das von einem „Recht auf Krankheit“ spricht, die zwangsweise Behandlung mit Psychopharmaka als einen der schwersten Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Integrität bezeichnet und menschenrechtlich gebotene, inhaltliche Voraussetzungen einfordert, bleibt Österreich unbeirrt dabei, die psychiatrische Zwangsbehandlung im Maßnahmenvollzug als „gelinderes Mittel“ zu loben und Vertretung, Rechtsschutz sowie die Achtung der Grund- und Menschenrechte zu verweigern.

Ausblick

„Geistig abnorme“ Rechtsbrecher sind psychisch oder intellektuell beeinträchtigte Menschen, die eine Straftat begangen haben, oft weil sie an ihrer Armut, fehlender Unterstützung, dem „Zwang“ in betreuten Einrichtungen mit anderen zusammenleben zu müssen und der Ausgrenzung aus sinnstiftenden Lebenszusammenhängen wie Arbeit und Familie, scheitern; vergleichsweise selten ist die Straftat  tatsächlich und ausschließlich Ausdruck der Beeinträchtigung.

Nicht tiefgreifend anders stellen sich Motive und Hintergründe „normaler“ Straftäter dar – Untersuchungen stellen außerdem in Frage, dass es den „normalen“ Straftäter gibt und stellen fest, dass eine übliche Gefangenenpopulation in österreichischen Justizanstalten in ca. 70 % bis 80 % eine schwere Persönlichkeitsstörung aufweist – die Frage, wie „normal“ es ist, straffällig zu werden, ist nicht sachlich und „neutral“ zu beantworten; vielmehr sind es gesellschaftliche Wertungen, die der Kriminalität als Normabweichung Krankheitswert zumessen, oder nicht.

Letztlich wird der Gesetzgeber die Frage zu beantworten haben, ob der Pathologisierung der Kriminalität oder der „Kriminalisierung“ beeinträchtigter Menschen der Vorzug zu geben ist; vor dem Hintergrund der derzeitigen Regelungen und ihrer Vollziehung, aber auch der Gleichbehandlungsforderung der UN-Behindertenrechtskonvention, sind die zweifellos diskriminierenden Sonderregelungen der Maßnahme, aber auch des Unterbringungsgesetzes insofern in Frage zu stellen, als sie die Zulässigkeit schwerster Grundrechtseingriffe an die Beeinträchtigung und die damit untrennbar verbundene Vermutung von „Gefährlichkeit“ knüpfen. Beide Gesetze werden dem Anspruch, beeinträchtigten Menschen Behandlung, Therapie und Unterstützung anzubieten, ohne ihr Selbstbestimmungsrecht zu verletzen, nicht gerecht.

Derzeit verunmöglicht die strafrechtliche Grundkonzeption des Schuldprinzips, dass beeinträchtigte Menschen, die straffällig geworden sind, dem Regime des Strafrechts unterschiedslos zu gesunden Straftätern unterstellt werden können; dennoch ist zumindest eine Gleichstellung hinsichtlich der Voraussetzungen, der Art und (befristeten!) Dauer strafrechtlicher Sanktionen zu fordern.

Besteht die Sanktion – gleichgültig, ob im „normalen“ oder „therapeutischen“ Vollzug darin, dem Täter die Freiheit zu entziehen, ist auf den individuellen Gesundheitszustand und die daraus resultierenden Bedürfnisse Bedacht zu nehmen. In einem reformierten, seinen Resozialisierungsauftrag in Hinblick auf jeden Insassen ernst nehmenden Strafvollzug ist jedem Häftling Behandlung, Unterstützung und Beschäftigung anzubieten.

Thomas Szasz, Psychiater und radikalster Vertreter der Antipsychiatrie formulierte diese Forderung bereits in den 60er-Jahren:

„Wenn die Gesellschaft Strafgefangene mit anständigem Essen, einer Bibliothek oder psychologischer Beratung versorgen will, sollte sie es direkt tun und die Notwendigkeit wie auch den Wunsch, ihr Rechnung zu tragen, offen zugeben. Sofern ein Bedürfnis nach Verbesserung des Strafvollzugs besteht – auch daran gibt es ja wohl keinen Zweifel –, sollten die Psychiater für das Anerkenntnis dieses Bedürfnisses eintreten, anstatt alle Kriminalität als Krankheit zu definieren.“[3]

Oder mit den Worten von Univ.-Prof. Bertel ausgedrückt: „In den mehr als 40 Jahren seit Inkrafttreten des StGB ist es weder der Justiz noch der Justizverwaltung gelungen, § 21 StGB dem Gesetz entsprechend umzusetzen. Gesetzesstellen, die sich als nicht vollziehbar erweisen, kann man vernünftigerweise nur abschaffen; je eher, desto besser.“[4]

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Mag. Elisabeth WINTERSBERGER
Bereichsleiterin VertretungsNetz Oberösterreich

 

 

[1] OLG Wien, 830 BE 9/16b

[2] Gutierrez-Lobos, Psychiatrische Gutachten im Spannungsfeld zwischen Medizin, Recht und Gesellschaft, juridikum 4/2004, 203 (205).

[3] Szasz, Recht, Freiheit und Psychiatrie (1980) 322.

[4] Bertel, Die Unterbringung nach § 21 Abs. 2 StGB, in Reindl-Krauskopf/Zerbes/ Brandstetter/Lewisch/Tipold (Hrsg.), FS Fuchs (2014) 19.

Und wir haben doch auch gute Nachrichten

10 Mittwoch Aug 2016

Posted by markusdrechsler74 in BLICKPUNKTE, Maßnahmenvollzug, Resozialisierung, Selbst- und Interessensvertretung Maßnahmenvollzug, WOBES

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BLICKPUNKTE, Christian Schober, WOBES

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Ein Beitrag von Christian Schober aus unserer aktuellen Ausgabe des Blickpunkte-Newsletters:

Viele glauben, die Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmenvollzug (SiM) ist in den Krieg gezogen und alles, was Strafe und Maßnahme betrifft, sei in unseren Augen schlecht. Zugegeben, anfangs dominierten die „Bad News“. All unsere Zeitungen funktionieren leider auch so: „Bad News are good News“. Es entspricht aber nicht meinem Wesen, nur alles negativ zu sehen, und für mich macht eine Nachricht erst Sinn, wenn ich beide Seiten betrachte. Nicht, dass ich nicht Einiges zu bekritteln hätte, aber das hebe ich mir für schlechtere Zeiten auf. Wir von SiM sind für Verbesserungen in der Maßnahme, und auch wir wollen uns verbessern. Damit wir möglichst viele Menschen erreichen und damit unsere Anliegen gehört, gelesen und verstanden werden.

So möchte ich heute über meinem Sozialarbeiter, Herrn Gottschall berichten. Ich arbeite und melde mich zu den Terminen bei ihm. Es ist auch im Moment genug, vierzig bis sechzig Stunden zu arbeiten, die Therapie fortzusetzen, und noch die eigene Wohnung herzurichten. Er legt mir dabei keine Steine in den Weg.

Mir kam die Geschichte zu Ohr, dass ein entlassener Untergebrachter seine Alimente nicht zahlen konnte. Miete und Kosten sind so hoch, dass die berechtigten Forderungen nicht zahlbar wurden. Da kommen wir zu Frau Katzberger, einer Sozialarbeiterin der WOBES mit enormen Durchsetzungsvermögen. Bedingt durch ihr Engagement, wurden die Alimente auf ein, für den Kollegen leistbares Niveau gesetzt. Der Kollege hat als Krankenpflegehelfer das schwere Los mit Vorstrafe keinen Job zu finden. Und da sind es wir von SiM, die dem Kollegen moralisch unter die Arme greifen. Es ist nicht zu verstehen, dass man nach der Maßnahme noch 10 Jahre lang keinen guten Leumund bekommt. Wer sich das ausgedacht hat, hat keine Ahnung von Resozialisierung. Nach einem Gespräch und ein paar Ratschlägen fängt der Kollegen bei einer Leihfirma zu arbeiten an. Nun ist er glücklich, und wenn alles gut geht, kann er auch bald seinen Kindern die vollen Alimente zahlen.

Wir sind zwar angeblich „geistig abnorm“, aber sicher nicht blöd, wie auch unsere Widersacher schon gemerkt haben werden. Wir sind nicht mehr allein dem System auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wir sind aber auch kein Verein, der sich von Maßnahmenpatienten zu ihren Zwecken ausnützen lässt. Wo Missstände sind, werden wir sie schonungslos aufdecken, wo Dank und Anerkennung angebracht ist, werden wir uns bedanken. Wenn wir uns irren, werden wir uns entschuldigen. Aber wir haben auch keine Angst vor irgendwem – jedoch Respekt vor jedermann.

Deshalb diesmal DANKE an Herrn Gottschall und DANKE an Frau Katzberger von der WOBES!

Staatsanwaltschaft ermittelt: Das Geschäft mit den Haftentlassenen

08 Montag Aug 2016

Posted by markusdrechsler74 in BLICKPUNKTE, Maßnahmenvollzug, Resozialisierung, WOBES

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Schlagwörter

nzz.at, Staatsanwaltschaft Wien, WOBEG, WOBES, Wolfgang Rössler

Foto 03.08.16, 21 58 24Die Staatsanwaltschaft Wien ermittelt gegen Verein, der Maßnahmenuntergebrachte offenbar gewinnbringend Wohnraum zur Verfügung stellt. 

Seit dem Frühjahr 2016 ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien gegen den Verein zur Wohnraumbeschaffung „WOBES“ wegen des Verdachts auf Förderungsmissbrauch und mehrerer anderer Straftatbestände. Hintergrund der Ermittlungen ist die Tatsache, dass der Verein einem Maßnahmenentlassenen trotz Zusicherung des Gerichts zur Übernahme der Miete diese verrechnen wollte.

Den Artikel dazu auf nzz.at

Verurteilt zu zwei Jahren, seit sieben in Haft

03 Mittwoch Aug 2016

Posted by markusdrechsler74 in §21/2, EGMR, Gutachter, JA Mittersteig, Maßnahmenvollzug, Resozialisierung, WOBES

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Schlagwörter

Haft, Helmut Graupner, Kurier, Kuttner vs Austria, psychische Folter, Thomas Trescher, Unbegrenzte Haft, VfGH

Maßnahmenhäftling Karl L.…

Foto: Julia Dragosits

Seit 2008 ist Karl L. im Gefängnis, obwohl er nur zu zwei Jahren verurteilt wurde. Nun hat sich sogar der Verfassungsgerichtshof eingeschaltet.

Der Bericht im Kurier: http://kurier.at/chronik/oesterreich/verurteilt-zu-zwei-jahren-seit-sieben-in-haft/213.121.052

Strafvollzug: Häftlinge werden unterworfen statt resozialisiert

29 Freitag Jul 2016

Posted by markusdrechsler74 in Resozialisierung

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Schlagwörter

Alexia Stuefer, Die Presse, Gefängnis, Gruppenbeschwerde, Resozialisierung, Richard Soyer

2013-06-27_knast_gefaengnis_gitterRechtslage und Vollzugspraxis in Österreichs Gefängnissen zeigen: Gefangene werden nicht wie vollwertige Menschen behandelt. Um ihre Rechte wahrnehmen können, sollten sie Gruppenbeschwerde erheben können.

Ein Plädoyer von Alexia Stuefer und Richard Soyer  in „Die Presse“:
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